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Wort des Jahres 2023: „Krisenmodus“

Glosse zum Wort des Jahres 2023 von Prof. Dr. Jochen A. Bär, Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Vechta und Hauptvorstand der Gesellschaft für deutsche Sprache e. V.

Krisen gab es schon immer: die Öl-/Energiekrise, die Wirtschafts- und die Finanzkrise, die Klima-, die Flüchtlings- und die Coronakrise. Hundert Jahre nach dem historischen Krisenjahr 1923 ist aber gefühlt so viel Krise, dass es der neue Normalzustand zu werden scheint. Russland-Ukraine-Krise, neue Nahostkrise, Krisen auf dem Wohnungsmarkt und im Gesundheitswesen, noch nicht bewältigte Inflation ... Zwischen Apathie und Alarmismus zu einem angemessenen Umgang mit den andauernden Ausnahmesituationen zu finden, fällt vielen Menschen schwer. Linguistisch zu beobachten ist dies an einer zunehmenden sprachlichen Radikalisierung im öffentlichen Raum, an Hatespeech in den sozialen Medien und an Verschwörungserzählungen.

Krisenmodus ist kein Wort, das erst 2023 geprägt worden wäre. Der früheste Beleg, der sich im Deutschen Referenzkorpus, der weltweit größten digitalen Textsammlung zur deutschen Sprache, nach 1945 findet, stammt aus dem Jahr 2001. Der erste Bestandteil des Kompositums geht zurück auf das griechische krísis, das mit kritisch verwandt ist und daher so viel bedeutet wie ›kritischer Punkt, entscheidender Punkt, Höhepunkt oder Tiefpunkt einer gefahrvollen Entwicklung‹. In der älteren Medizin war die Krise der Wendepunkt einer Krankheit; im Griechischen konnte das Wort auch für ›Urteil, gerichtliche Entscheidung‹ stehen. Die Entlehnung in die deutsche Sprache erfolgt im 18. Jahrhundert über das Französische; in der Bedeutung ›Entscheidungspunkt, schwierige Lage‹ wird Krise bereits in dieser Zeit auf wirtschaftliche und politische Zusammenhänge übertragen.

Der zweite Wortbestandteil kommt im 17. Jahrhundert aus dem Lateinischen ins Deutsche. Modus bedeutet ursprünglich ›Maß, Ziel, Vorschrift, Art und Weise‹, im Deutschen dann auch ›Verfahrensweise‹. Krisenmodus wäre also zu übersetzen mit ›regelgeleitete, planmäßige Verfahrens- oder Verhaltensweise in einer schwierigen Lage‹. Das bedeutet sinngemäß, dass man alles tut, um die Wende herbeizuführen und aus der problematischen Situation wieder herauszukommen. Wenn es sich um eine Dauerkrise handelt, erhält freilich das Wort eine neue, der ursprünglichen widersprechende Bedeutung: der Krisenmodus tendiert dann zur Akzeptanz, zum Sicheinrichten in der Krise.

Von „psychischen Belastungen durch Krieg, Corona, Klima“ sprach Focus online (24. 10. 2023) und fokussierte: „Wir befinden uns seit Monaten im Dauerkrisenmodus, jetzt kommt auch noch die so genannte dunkle Jahreszeit dazu.“ Deutschland im Krisenmodus, Welt im Krisenmodus oder Leben im Krisenmodus lauteten andere Titel und Schlagzeilen. „Es ist Zeit, dass Deutschland den Krisenmodus abschüttelt“, erklärte Christian Böllhoff im Handelsblatt (5. 2. 2023). „Wir beenden nun den Krisenmodus expansiver Staatsfinanzen“, so Bundesfinanzminister Christian Lindner in der Zeit (5. 7. 2023) – allerdings bevor das Bundesverfassungsgericht seinen Haushaltsentwurf für rechtswidrig befand und ihm damit ein Milliardenloch (WdJ 8/2023) bescherte, zu dessen Deckung neue Schulden in Aussicht genommen werden mussten.

Ob angesichts der Weltlage ebenso wie der Situation im Inland aus dem Krisenmodus bald herauszukommen ist, darf bezweifelt werden. Umso wichtiger scheint es zu sein, den eigenen moralischen Kompass nicht zu verlieren. Man muss gar nicht unbedingt die Welt retten; es könnte genügen, unaufgeregt das zu tun, worin nach dem Urteil (krísis) des griechischen Philosophen Platon das Gute besteht: alle Menschen jeweils das, wozu sie imstande sind.

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